Stationäre Jugendhilfe: Systemrelevant – aber offenbar ausgeblendet
Alle Berufsfelder in der Sozialen Arbeit leisten professionelle Corona-Hilfe
In den medizinischen und pflegerischen Berufen ist die Anspannung aufgrund der Corona-Krise derzeit sehr groß. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich um kranke Menschen kümmern, Seniorinnen und Senioren betreuen oder behinderte Menschen unterstützen, arbeiten unter schwersten Bedingungen. Fehlendes Schutzmaterial und verzögerte Testergebnisse erschweren die Arbeit zusätzlich.
Nicht so im Scheinwerferlicht stehen aktuell andere Berufsfelder Sozialer Arbeit: Die Mitarbeitenden der stationären Kinder- und Jugendhilfe zählen ebenso zu den systemrelevanten Berufsgruppen. Sie betreuen die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr, sind für deren Schutz zuständig. Viele der Kinder und Jugendlichen leiden unter Vorerkrankungen. Dennoch werden sie bei Entscheidungen, die die systemrelevanten Berufe betreffen, leider oft vergessen. Beispielsweise ist es nicht möglich, Personal der stationären Jugendhilfe auf eine mögliche COVID-19-Erkrankung in den Drive-In-Stationen zu testen. Bei anderen systemrelevanten Berufsgruppen ist dies schon möglich. Viele Entscheidungen liegen hier nicht allein beim Stadtjugendamt.
Condrobs e.V., eine Mitgliedsorganisation des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, hat mehrere stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe in München und meldete als eine der ersten einen Verdachtsfall an das Gesundheitsamt. Doch was daraufhin passierte, war ernüchternd: Seitens des Gesundheitsamts wurde kein Test durchgeführt; nur über eine private Verbindung ins medizinische System konnte der Jugendliche getestet werden. „In der Zeit von unserer Klassifizierung als Verdachtsfall bis zum positivem Ergebnis verging eine Woche“, berichtet Frederik Kronthaler, Geschäftsführer der Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene bei Condrobs. „Das Gesundheitsamt hat dann die Arbeit in Schutzausrüstung gefordert, diese aber selber nicht zur Verfügung stellen können.“ Kronthaler fordert schnellere Reaktionszeiten der Behörden und eine Priorisierung auch für die stationären Jugendwohngruppen. „Eine Quarantäne der gesamten Belegschaft und der Jugendlichen über einen längeren Zeitraum ist nicht umsetzbar und hat erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit und Finanzierung.“ Zudem sollte die Ausstattung mit ausreichender Schutzkleidung für Bewohner und Mitarbeitende selbstverständlich sein „und nicht am Glück und der Kreativität des Beschaffungsmanagements eines Trägers liegen“. Eine finanzielle Absicherung seitens aller Kostenträger müsse ebenfalls vorbehaltlos zugesichert werden.
ARGE-Sprecherin Andrea Betz ergänzt: „Das Personal leistet derzeit Herausragendes, um Menschen in Not zur Seite zu stehen. Die aktuelle Krise zeigt umso deutlicher, wie sehr unsere Angebote gebraucht werden – sie sind alle sozialrelevant.“ Beispielsweise die Mitarbeitenden in Frauenhäusern, in der Wohnungslosen- und Flüchtlingshilfe sowie in den sogenannten Einrichtungen im Notbetrieb für Obdachlose und Menschen in Not. Und weiter: „Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen sind wir derzeit in allen Bereichen sehr sensibilisiert. Wir müssen akute Existenzkrisen, psychische Krisen, häusliche Gewalt oder Kindeswohlgefährdungen früh genug wahrnehmen und schnell handeln.“ Die freien Träger haben rund 200 stationäre Jugendhilfeeinrichtungen, die die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr betreuen; derzeit gibt es mehr als 2.000 Plätze.
Die Mitarbeitenden in den Alten- und Servicezentren, Familienzentren und Migrationsberatungsstellen beispielsweise stünden derzeit verstärkt telefonisch und digital mit den Klientinnen und Klienten im Kontakt. „Um arbeitsfähig zu bleiben, brauchen wir ausreichend Informationen, Verbindlichkeit und Transparenz über die Entscheidungen der Behörden.“ Deshalb sei es dringend nötig, aktuell in Entscheidungsprozesse eingebunden zu sein, damit die Mitarbeitenden die Auflagen auch gezielt umsetzen können, so Betz. Daher fordert die ARGE freie München einen Platz im Krisenstab der Landeshauptstadt.
ARGE Freie Wohlfahrtspflege
Zur Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege München gehören die Arbeiterwohlfahrt, das Bayerische Rote Kreuz, die Caritas, die Diakonie, die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern sowie der Paritätische Wohlfahrtsverband. Die sechs Wohlfahrtsverbände mit mehr als 600 Mitgliedsorganisationen beschäftigen in zahlreichen Einrichtungen in der ganzen Stadt rund 20.650 Personen.