Repor t Wir Älteren waren gezwungen, uns an- zupassen. Sonst wären wir mit Krieg und Vertreibung nicht zurechtgekommen. Ingeborg D. und ich zum Beispiel mal heiraten sollten, wollen wir unseren Besitz bis aufs Kleinste auseinanderdivi- dieren, damit im Falle einer Trennung alles geregelt ist. Ingeborg: An Scheidung habe ich während meiner 60-jährigen Ehe nie gedacht. Heute seid ihr da prag- matischer und trefft gleich Vorsorge. Ich war damals viel konservativer. Ich wollte auf jeden Fall Kinder und – obwohl ich als Buchhalterin erfolgreich war – zu Hause bei ihnen bleiben. Damit wir uns das leisten konnten, habe ich meinen Mann beim Aufbau seiner Selbstständigkeit unterstützt. Mit einer eigenen Fir- ma konnte er mehr verdienen als als Angestellter. Wir bekamen drei Kinder. Damit war damals klar, dass die Mutter nicht in ihren Beruf zurückkehrt. Natür- lich war das, objektiv betrachtet, ein Risiko für mich. Was wäre passiert, wenn mein Mann mich verlassen hätte? Aber ich hatte Vertrauen in unsere Beziehung und habe mir keine Gedanken über meine finanzielle Abhängigkeit gemacht. Angelina: Mama, warst du auch so naiv? Birgit: Ja, das muss ich zugeben. Für mich persön- lich stand der Gedanke an eine mögliche Scheidung niemals zur Debatte. Heute, wenn ich diese aufwen- digen Hochzeitsfeiern sehe, denke ich mir oft: Bleibt ihr wirklich ein Leben lang zusammen? Aber früher habe ich das nicht so gesehen. Ingeborg: Schon als Kind hatte ich den Wunsch, Hausfrau und Mutter zu sein. Und ich bin heute noch froh darüber! Dass ich so viel für meine Kinder und Enkel tun konnte, macht mich glücklich. Aber da- für brauchte ich einen Mann und eine sichere Ehe. Jemanden, der dasselbe will wie ich. Als ich meinen Mann traf, habe ich mit dem Kopf entschieden: Mit dem habe ich ein sicheres Fundament, das mache ich. Und schon nach einem halben Jahr waren wir uns einig, dass wir heiraten wollen. Angelina: Da ist meine Generation ganz anders. Wir jungen Frauen wollen auf keinen Fall in eine Abhän- gigkeit geraten, die uns, wenn‘s schlecht läuft, an den Rand der Existenz bringen kann. Ingeborg: Als meine Familie gegen Kriegsende aus Schlesien fliehen musste, haben wir alles zurück- gelassen. Sogar meine geliebte Puppe ging auf der Flucht verloren. Aber wir waren froh, den Krieg über- lebt und alle Verwandten beisammen zu haben. Am Ende kehrte noch mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Aus dem Gefühl, enormes Glück gehabt zu haben, erwuchsen großer Optimismus und ein starker Wille zum Wiederaufbau. Jeder wollte sich etwas Eigenes schaffen. Eine Familie zu grün- den, war selbstverständlich. Neun Monate nach unserer Hoch- zeit wurde dein Vater geboren. Angelina: Meine Eltern haben mir eine gute, konstante Ehe vorgelebt. Sie strahlten förmlich aus: Man bleibt bei seinem Partner. Aber mir wurde schon während des Stu- diums klar, dass ich nicht einfach blauäugig heiraten und eine Familie gründen möchte. Im Soziologie- und vor allem im Jurastudium haben wir gelernt: Wenn der Mann die Frau verlässt, hat sie in unserem System verloren, vor allem als alleinerziehende Mutter. Diese Erkenntnis hat mich stark geprägt: Ich möchte Karriere machen, um finanziell unabhängig zu sein. Früher hatte ich automatisch den Wunsch nach einer eigenen Familie. Jetzt denke ich kritischer darüber. Das beschäftigt auch viele meiner Freundinnen. Und übrigens auch deren Partner. Birgit: Ich habe das Gefühl, dass ich von meinen Töchtern viel lerne. Als meine Generation aufgewachsen ist, haben wir uns über diese Dinge nicht groß Gedanken gemacht. Auch über viele andere Diskussionen, die die Jugend heute führt: Das N-Wort, der Begriff „Zigeuner“ oder das Gendern waren für uns kein Thema. Angelina: Oma, was sagst du denn zum Gendern? Ingeborg: Das braucht man nicht! Angelina: Das sehe ich ganz anders. Geschlechtergerechte Sprache ist ein wichtiger Aspekt, um die im Grundgesetz ver- ankerte Gleichbehandlung der Geschlechter zu fördern. Birgit: Ich mache mir durch diese Gespräche vieles erst jetzt bewusst. In unserer deutschen Nationalhymne ist zum Bei- spiel immer noch von „Vaterland“ statt von „Heimat“ die Rede. Ingeborg: Veränderungen dieser Art tun uns Alten weh. Man mag nichts Gewohntes hergeben. Angelina: Ich schon! Religion ist auch etwas, das unsere Generation extrem spaltet. Gleich als wir 18 waren, sind mein Freund und ich aus der Kirche ausgetreten. Ingeborg: Habt ihr denn nicht das Gefühl, dass Menschen gern in Gruppen leben, mit denselben Vorstellungen, demselben Ziel? Ich finde das so wohltuend! Wir brauchen die Kirche, sie ist so wichtig. Die geistige Zusammenfassung von gleich den- kenden Menschen ist eine schöne Sache. Angelina: Siehst du denn nicht die Missstände? Ingeborg: Die gibt es immer. Angelina: Das finde ich zu einfach gedacht. In der Soziologie