Am Silvestertag feierte Käthe Korn, seit sieben Jahren Bewohnerin im Haus Alt-Lehel, ihren hundertsten Geburtstag. D 14 Spektrum ie Lebensweisheit, die – reich ver- ziert – in Käthe Korns Wohnung hing, spendete ihr oft genug dringend benötigten Trost: „Immer, wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Die tatkräfti- ge, optimistische und stets unabhängige Käthe Korn glaubte fest an die Wahrheit hinter diesem Sinnspruch, und ihr Leben beweist, dass der Mensch auch in gröflter Verzweiflung nie die Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren verlieren sollte. Am letzten Tag des Jahres 1914 in Schlesien geboren, steht ihre Kindheit im Zeichen des Ersten Weltkriegs mit all sei- nen Entbehrungen. Nachdem der Vater von den Schlachtfeldern nicht wieder- kehrt, bleibt seine Witwe mit zwei klei- nen Töchtern allein zurück. Nicht selten geht es ums nackte Überleben. Käthe Korn erinnert sich an so manche Nach- mittagsbeschäftigung: „Zeit für Hausauf- gaben blieb selten. Gleich nach der Schule musste ich in den Wald, um Heidelbeeren zu sammeln oder Pilze zu suchen.“ Die Familie verkauft diese Schätze für ein karges Entgelt auf dem Wochenmarkt. Weil die Mädchen früh zum Einkommen der Familie beitragen müssen, bleibt Kä- the auch der Besuch der Oberschule ver- sagt, obwohl ihre Lehrerin diesbezüglich extra bei der Mutter interveniert. Schon früh hegt sie den Wunsch, diesem Leben zu entkommen. Taten- durstig verlässt sie mit 14 Jahren ihr Heimatdorf und sucht sich eine Stelle in einer Bäckerei in Görlitz. Anschlieflend arbeitet sie im Haushalt eines wohlha- benden Ehepaares. Doch die junge Frau will mehr erreichen und paukt in Abend- kursen Stenografie und Maschineschrei- ben. Damit öffnet sich der Weg in den Staatsdienst. In Dresden ist sie nun zu Hause und lernt dort Ende der 30er- Jahre den jungen Zimmermann Otto kennen. Erneut wird sie Zeitzeugin ei- nes Weltkriegs, und bereits kurz nach der Hochzeit wird der Bräutigam einge- zogen. Als Dresden Mitte Februar 1945 den Brandbombenangriff erlebt, der die Stadt in Schutt und Asche legt, verliert auch Käthe ihr gesamtes Hab und Gut. Nur mit einem Handkoffer flieht sie zu ihrer Schwester in den Bayerischen Wald. Dort erhält sie wenig später die traurige Nachricht, dass ihr Mann bei einem der letzten Bombenangriffe auf Berlin umgekommen ist. Käthe steht nun endgültig vor dem Nichts. Wieder ist ein Neuanfang unausweichlich. Es verschlägt sie nach Regensburg, wo sie Arbeit findet. Hier lernt sie den Schneider Alois kennen, heiratet ihn und unterstützt ihn in seinem Betrieb bei der Buchhaltung. Zwei Jahre nach Kriegsende wird Tochter Eva geboren. Doch auch das neue Familienglück hält nicht lange: Eva ist gerade drei Jahre alt, als Alois verstirbt und Käthe Korn wie- der einmal auf sich allein gestellt ist. Sie bewirbt sich erneut im Staatsdienst und findet so den Weg nach München. Hier arbeitet sie bis zur Rente als Sekretärin im Bayerischen Landeskriminalamt. 55 Jahre bewohnt sie eine Wohnung in der Hiltenspergerstrafle, im vierten Stock, ohne Aufzug. Tochter Eva hat nach Frankreich geheiratet, daher schaut in den späten Jahren ein Pflegedienst nach Käthe Korn. Dass ihr das Treppenstei- Mehrmals in ihrem langen Leben stand Käthe Korn vor den Trümmern ihrer Existenz. Doch sie gab nie auf. Ein Leben in Bewegung